Ein Kater namens Sidi Brahim

Kurze Störung

Die Schweiz ist das reichste Land der Welt. Das wurde mir bei der Lektüre des "Bund" der Sylvesterausgabe 2015 drastisch bewusst: 8.5 Millionen Tonnen Kaviar importiert das Land im Jahr! Noch dras­tischer wurde mir klar, dass ich selber bisher viel zu wenig zu diesem Wohlstand beigetragen hatte, sondern nur als schmarotzende Gammlermade im fetten Fleisch herumgewimmelt hatte. Die paar armseligen Körnchen Kaviar, die ich bisher in meinem Leben geschluckt hatte, haben wohl kaum die Basis für den phänomenalen Wohlstand des Landes geschaffen, waren vielmehr ein krasses nihilistisches State­ment im Vergleich zu der gut einen Tonne Kaviar im Jahr beziehungsweise drei Kilo im Tag, die der Schweizer im Durchschnitt, vom Baby bis zum Rentner, vom Bio-Vollkorn-Veganer bis zum T-Bone-Schwinger, vom Bauer bis zum Banker verschlingt. Reichtum verpflichtet.

Als Secondo mit immer noch gelegentlichen Zugehörigkeitszweifeln und daraus bedingtem Drang zur Durchschnittlichkeit beschloss ich, auch bezüglich des Kaviars endlich vollwertiges ernstzunehmendes Element dieses Landes zu werden. Angesichts der bevorstehenden Jahresend­feiertage kein leichtes Unterfangen: Da ja auch der übrige Durchschnitt auf freizügiger Einkaufstour war und ausserdem drei einkaufsfreie Tage bevorstanden, galt es den Normal­kaviar­konsum von vier Tagen rechtzeitig im Voraus zu beschaffen. Kurz vor Laden­schluss und nach dem Besuch von einer Bank und 114 Delikatessläden im Raum von Bern war ich tatsächlich um einen Pfandbrief ärmer und zwölf Kilo Kaviar reicher und freute mich auf ein standesgemässes Festmahl.

Der erste Tag begann feierlich: Zum Kaffee öffnete ich die ersten drei Zehngramm­döschen Beluga-Kaviar und strich sie aufs Butterbrot. Was für einen Geschmack hatte ich all die Jahre verpasst!!! Nach dem Mittagessen konnte ich mir schon gar nicht mehr vorstellen, je wieder etwas anderes zu essen, aus dreierlei Gründen: erstens
war das Zeugs wirklich lecker, zweitens hatten sämtliche Kriegsvorräte im Keller meinem gestrigen Grosseinkauf Platz machen müssen, der nun sozusagen als Laiche im Keller lag, und drittens war ich erst 950 Gramm weit. Leichte Panik, dass ich aufgrund mangelnder Gewohnheit das Tagespensum nicht schaffen und wieder zum kulinarischen Sans-Fichier1 absteigen würde, machte sich breit. Der Durchschnitt schien in unerreichbarer Ferne, und an den Händen machten sich erste Blasen bemerk­bar vom Öffnen der Döschen. Kurz vor Mitternacht sank ich jedoch unendlich erleichtert und zufrieden, aber dick wie Moby mit 3 Kilo Kaviar im Bauch ins Bett und träumte einen wilden Mix, in welchem ich gleichzeitig ein Wal auf der Flucht vor Jonas und ein Wolf auf der Flucht vor Rotkäppchen war.

Am nächsten Morgen war ich schon Habitué. Ich hatte herausgefunden, dass man mit Melkfett und Latex-Handschuhen rund doppelt so schnell und auch noch nach Stunden blasen- und schmerzfrei die Döschen öffnen konnte. Ausserdem stellte ich erfreut fest, dass die Ernährungs­umstellung auf Schweizer Durchschnitt sehr gesund ist: Die kumulierten Erkenntnisse, dass Kaviar im Kaffee nicht löslich ist, dass das typische Schweizer Getränk Ovomaltine - wie sollte es auch anders sein - ebenfalls aus Störeiern hergestellt wurde und ich es daher am Tagespensum anrechnen durfte, und dass ausserdem neben dem Kaviar schon rein kalorienmässig gar keine anderen Lebensmittel mehr drin lagen, machten mich nämlich praktischerweise zum Ovo-Lacto-Vegetarier. Im Assimilations­stress - die Katze liess mich leider auch im Stich - hatte ich aber die Mittagsportion wohl etwas zu schnell verschlungen, so dass ich sie mir auf dem Weg durch die Stadt noch einmal durch den Kopf gehen liess und im Bus mit schlechtem Gewissen ein froschlaichähnliches Konglomerat auf dem hintersten Sitz hinterliess. Das gab dann wenigstens Platz für das Abendmahl. Im Traum wurde ich von Jonas und dem Rotkäppchen gefressen.

Am dritten Tag realisierte ich zufrieden,

1dt.: ohne Fischeier
dass ich erstmals fühlen und denken konnte wie ein Durchschnittschweizer, der sich mit Gartenzäunen, Selbstschussanlagen, Katzenschreck, Schaumisolierung, Betty-Bossi-Butterblätterteig und Hausunrat­versicherungen umpanzert. Von allen Seiten fühlte ich mich bedroht von orangen und schwarzen Glubschaugen, die es auf mich abgesehen hatten. Nur mit Mühe brachte ich die Ovomaltine herunter. Widerwillig nahm ich das erste Döschchen in die Latexhandschuhe und drehte es auf. Ich wusste nicht, ob das entweichende Vakuum oder irgendetwas in meinem Kopf Klick machte. Verstört rannte ich aufs Klo und leerte meine Feinde dort hinein, spülte und setzte mich auf den Deckel. Dann stellte ich mir vor, wie die Störeier sich unbemerkt in der gegenüberliegenden Kläranlage ausbreiteten, reiften, lauter neue Störe schlüpften, in die Aare sprangen und von dort aus die Welt eroberten. Verstört setzte ich mich vor den Fernseher, um mich abzulenken. Es lief "The Sturgeons" von Alfred Hitchcock. Ich schaltete um. Jamie Olivier füllte gerade einen Truthahn mit Kaviar. Auf dem nächsten Sender terrorisierte ein weisser Stör arglose Badetouristen. Ich stellte den Fernseher wieder ab und griff zur Morgenzeitung. Im "Bund" las ich, dass sich in der Sylvester­ausgabe bedauerlicherweise ein Fehler eingeschlichen habe und die Schweiz jährlich nur 8.5 Tonnen Kaviar importiere.

Ein Stein fiel mir vom Herzen. Ich würde das Zeugs nie mehr im Leben anrühren müssen und könnte trotzdem an meinem Lebens­ende problemlos vor der Nationalbank­pforte einen satten Durchschnittskonsum von diesen widerlichen Glibberkugeln aufweisen. Man würde mich ins Paradies einlassen, ich würde den ganzen Tag Schokolade essen, jodeln und auf die Uhr schauen.

Zufrieden liess ich meinen Blick aus dem Fenster schweifen. Unten an der Aare zog soeben ein Fischer ein Prachtsexemplar von einem Stör aus dem Wasser und wurde von ihm verschluckt.
Ahab

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