Ein Kater namens Sidi Brahim

Harte Drogen

Vor 200 Jahren noch flossen an Gelagen zu Spanferkel, Presskopf, Kuhsushi, Katzencarpaccio und anderen herzhaften Gerichten gut und gerne zwei Liter Wein pro erwachsenen Verlustierer, wie sich leicht in Archiven nachlesen lässt. Kein Wunder, war der Wein ja auch das Coca-Cola des Mittelalters. Er wurde in Massen für baldigen Verbrauch hergestellt, Qualität und Aromatik spielten eine sekundäre Rolle, Alkohol war nicht viel drin, er war einfach ein frischer Essensbegleiter, der zudem die Stimmung hob, kurz und gut: ein Getränk.

Heute ist Wein kein Getränk mehr, sondern ein Kulturgut. Er wird nicht in Bechern, sondern in Riedeln nicht gesoffen, sondern geschwenkt. Der Zapfmeister erwartet, dass das Opfergut aus seinem Keller mit betretener Andacht geschlachtet wird. Wer das Glas am Kelch statt am Stiel oder gar mit beiden Händen hält, in einem Zug leert, schmatzend weiterisst und dazu einen Schwank zum besten gibt, ist untendurch und darf höchstens noch erwarten, beim nächsten Botellon eingeladen zu werden. Viele Weine heischen dermassen viel Aufmerksamkeit, dass man das Essen dazu besser gleich sein lassen sollte. Wenn in der Wiener Oper die Traviata gegeben wird, ist Frittenmampfen in der Loge schliesslich auch nicht gerade von Welt.
Obwohl der Wein ja nun ein Kulturgut ist, fällt es einem bisweilen schwer, kultiviert zu bleiben. Mit lallender Zunge versucht man noch ein "scho nen schönen Geschmagg an schwassen Kischen unn Ssimmt woschndasklo?" zu stammeln, bevor man in die Hosen machend ins Koma fällt. Kein Wunder, bei dem Alkoholgehalt! Früher war ich besoffen, wenn ich an der Strohrumflasche genippt hatte, heute reicht ein Sniff mit einem Nasenloch an einem Glas Twanner. Regelmässig, wenn ich in den Keller steige, um für die Gäste eine zweite Flasche zu holen, liegen die schon unterm Tisch, wenn ich wieder raufkomme.

Nicht nur, dass die Trauben heute von Natur aus schon alkoholstärkere Getränke geben - restriktive Ertragsbegrenzungen und der Klimawandel machen es möglich - dem wird gelegentlich noch nachgeholfen mit dem Konzentrator. Mit dem kann man sogar die "Nachgeburt" einer Lese, d.h. das, was bei der in heimischen Gefilden gelegentlich zu beobachtenden Ertragsregulierung während der Ernte* noch am Stock bleibt, zu einem Turbobeschwipser eindampfen. Wenn der Alkoholgehalt der Weine in dem Mass weitersteigt wie in den letzten zehn Jahren, stehen wir Mitte des Zweiundzwanzigsten Jahrhunderts vermutlich vor der physikalisch-arithmetischen Grenze, dreistellige Volumenprozentangaben auf die Etiketten drucken zu müssen. Der Wein wird dannzumal zu den harten Drogen gezählt
werden, sein Konsum darf definitiv nur noch im Fixerstübli erfolgen. Der Besöffnisgrad beim Röhrchenblasen wird dannzumal auch in Prozent oder in g** gemessen und Substitutionsprogramme mit Budweiser von der Fürsorge bezahlt werden.

Wahrscheinlich kommt dieser Trend aus Australien. Dermassen grosse Mengen von vergorenem Traubensaft werden von dort nach Europa transportiert, dass schon die reine ökologische Vernunft eine vorgängige Kompression sinnvoll erscheinen lässt. Erstaunlich ist nur, dass die Weine generell trotz höherem Alkoholgehalt nicht mehr so lange lagerfähig sind wie früher. Die Konservierung durch Alkohol scheint also zu versagen. Mit Zucker und Koffein geht das besser. Coca-Cola bleibt eben doch der Wein der Neuzeit.
Der verkaterte Stiefel

*auch wenn die Schweizer Vogelwarte die Freundlichkeit einheimischer Winzer gegenüber den Zugvögeln begrüsst, sollte Ertragsregulierung entweder nach der Blüte oder dann erst im Glas stattfinden.
**1g = 9.81 m / s2 Fallbeschleunigung. Es ist hinreichend bekannt, dass man mit zunehmender Beduselung schneller fällt. Allerdings gibt es noch keine zuverlässigen Messinstrumente für diese Methode.

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