Ein Kater namens Sidi Brahim

Kettenreaktion

Angefangen hat es mit einem Paar grosser dunkler Augen. Ich weiss nicht mehr, ob die Augen einem vor dem Aussterben bedrohten Lemuren gehörten oder einem hunger­leidenden Kind aus der Sahel-Zone Namens Simba. Jedenfalls erlag ich diesen Augen, und das war der Anfang vom Ende.

Ich füllte eine Zahl in den beiliegenden Ein­zahlungsschein des WWF - oder war es Terre des Hommes? - ein, und es ging mir gleich besser. Wie nach einem Ablass oder Aderlass. Allerdings nicht für lange. Wie nach einem Ablass oder Aderlass. Bald einmal fragte der WWF nach, ob ich eigentlich nicht nur Lemurenaugen, sondern auch Elefanten­nasen süss finden würde, und die Geschwister von Simba hatten ebenfalls Hunger. Es stellte sich zudem schnell einmal heraus, dass auch Helvetas und der Drahtesel Simba kannten und ihm gerne frisches Wasser und ein altes Velo für den Schulweg zur Verfügung stellen wollten. Zuviel Wasser hatten hingegen Simbas Verwandte in Bangladesh, die jetzt Geld für ein Pedalo mit Blümchenaufdruck für den Schulweg sammelten, und für einen neuen Lehrer - der alte konnte nicht schwimmen. Meine Spende für die Nasen­korrektur des Elefanten war leider gegenstandslos geworden, da sich derselbe einer unfrei­willigen Zahnextraktion durch einen nicht zertifizierten afrikanischen Zahnarzt unterzogen hatte und die Schönheit nun eh hin war. Meine Spende wurde nun stattdessen für die bessere Ausbildung der Elefanten­zahnärzte eingesetzt. Zeitgleich wurde der Baum, an den der letzte noch freilebende Puma gepinkelt hatte, akut von skrupellosen Tropenholzfällern bedroht, und Greenpeace - oder war es die Glückskette? - suchte dringend Geld für eine Kette, um sich an ihn anzubinden, also an den Baum. Auch
den Bienen in Amerika ging es schlecht, und Greenbees, Messies Sans Frontières und der WWF stritten sich, ob auch hier Anketten, Tollwutimpfungen oder ein Reservat mit Pflegeabteilung und kostenloser Zahnarzt­betreuung besser helfen würden oder vielleicht doch eher eine gemeinsam durchgeführte #MeToo-Kampagne. Hurrikan Melanie verwüstete unterdessen Kuba und den Kommunismus, während in der Sahara die diesjährige Sandernte an Trockenheit den britischen Humor auszustechen drohte, was einen Mayday im Unterhaus auslöste, weil dieses den akuten Brexitus letalis des letzten einheimischen Qualitätsprodukts befürchtete, und mir langsam schwindlig wurde von all den bunten Broschüren über das Elend in der Welt, die in den Briefkasten flatterten gleich Schmetterlingen. Allen diesen bunten Schmetterlingen lagen natürlich rosarote Einzahlungsscheine bei, mit denen man die Welt rosaroter machen kann, sich besser fühlt und das Elend fernhält. Ich behändigte diese fleissig und dachte mir dabei: Mensch, Mensch! Warum nur richtest du so viel Unheil und Unfrieden in der Welt an? Warum nur kannst du nicht so beschaulich, friedlich und glücklich mit deiner Umwelt zusammenleben wie wir das hier in der Schweiz tun?

Einer dieser Schmetterlinge muss dann wohl diesen fatalen Flügelschlag getätigt haben, der den Tornado auslöste. Allerdings diesmal nicht in Brasilien, sondern in dieser beschaulichen Schweiz. Noch genauer: bei mir zuhause. Das behagliche Rauschen des Blätterwaldes all dieser bunten Broschüren schwoll bedrohlich an. Bald kam die Post zweimal, dann dreimal täglich, erst mit dem Töff, dann mit dem Auto, dann mit dem Ladekipper vorgefahren und lud verschnupfte Nashörner, verdorrte Reisernten, aussterbende Dinosaurierarten, Tellerminen aus dem dreissigjährigen Krieg und notgelandete Untertassen, gemobbte notgeile Filmproduzenten und liebesbedürftige
Multimillionäre, in Ungnade gefallene Kernkraftwerke und bluthustende Dieselautos ab – mehr und mehr. Eine dieser Broschüren fiel mir besonders ins Auge: sie führte eindrücklich den steigenden Bedarf an Ressourcen für die Menschheit vor, die von immer weiter her gekarrt und in aufwändigen Prozessen verarbeitet werden müssen und die letzten unberührten Ecken der Erde und ihr Klima nachhaltig bedrohen. Die vorliegende Broschüre zum Beispiel sei auf Papier aus original Regenwald-Mahagonifasern mit hochgiftigen Farbstoffen aus Kalium, das in südafrikanischen Minen von unterbezahlten Überpigmentierten geschürft worden sei, in China von tibetischen Kindern bedruckt worden, welche unter spanischer Grippe litten. Um diesen Missstand (welchen genau?) zu bekämpfen, bat sie um ein paar Petrodollars.

Auch wenn ich diesmal nichts gab, es war zu spät. Die Altpapiersammlung versuchte uns zu retten und sammelte fleissig wertvolle Ressourcen für die Herstellung neuer Broschüren zur Rettung der Welt bei uns ein, doch ihr fehlten die Mittel, um in der Frequenz und Kapazität mit dem kaliumgelben Riesen mitzuhalten. Unser Haus versank richtiggehend in einer Flut von Schmetterlingsflügeln. Ich verstehe jetzt auch besser, warum wirklich reiche Wohltäter dauernd mit ihrer Jacht auf den Weltmeeren unterwegs sind. Die Glückskette - oder war es Greenpeace? - fing an Glückskeckse zu backen für uns, Caritas nahm uns in ihr Programm auf, und bald schon hielten wir stolz die erste Broschüre in der Hand, die uns zusammen mit Simba und dem Lemuren vor, nein auf unserem Haus stehend zeigte, von dem nur noch die Solaranlage aus der Flut herausschaute.
Simba Zewo

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